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LOKHALLE KLASSIK 1 - Anmerkungen zum Programm

Was für ein Auftakt – international und mit Händel! Corona macht es möglich, dass wir unseren Saisonauftakt als Teil der normalerweise im Mai stattfindenden Internationalen Händelfestspiele Göttingen begehen und programmatisch den Umständen entsprechend mit ausgewählten Bearbeitungen der Musik Händels aus der auf ihn folgenden Musikgeschichte ausgestalten können. Dirigentin Ruth Reinhardt, sicher eine der aufregendsten, vielfältigsten, aber auch feinsinnigsten ihres Fachs, eröffnet eine Saison, die nicht nur im Zeichen des Neustarts steht, sondern auch ein klares Zeichen für die größere Präsenz und Bedeutung von Frauen bei uns im Konzertbetrieb setzt. Doch während bei der Konzertreihe des GSO in der Aula am Wilhelmplatz durchweg und konsequent auch mindestens eine Komponistin auf das Programm gesetzt wurde, gibt es zum Auftakt noch einmal die programmatisch klassische und tradierte Männerriege aus drei Komponisten: Händel, Martinů und Brahms.


Georg Friedrich Händels zwölf Concerti grossi op. 6 von 1739 entsprechen ganz der ursprünglich von Corelli begründeten Form. Johann Joachim Quantz schreibt 1752 zu dieser Werkform: „Die Concerti haben ihren Ursprung bei den Italienern. Torelli soll die ersten geschrieben haben. Ein Concerto grosso besteht aus einer Vermischung verschiedener konzertierender Instrumente, von denen immer zwei oder mehrere Instrumente, deren Anzahl sich zuweilen wohl auf acht und noch drüber erstrecket, miteinander konzertieren.“ Die zwölf Konzerte wurden im Herbst 1739 innerhalb nur eines Monats komponiert und machen nur wenige Anleihen bei früheren Werken. Händels op. 6 weist mit neuartigen Stilelementen, wie der Einführung und Verarbeitung eines zweiten Themas und einer differenzierten Dynamik und Harmonik, bereits auf die Sinfonik der Vorklassik hin. In unserem Konzert erklingt das Concerto grosso Nr. 7, das Arnold Schönberg einige Jahrhunderte später auch in seinem Konzert für Streichquartett und Orchester auf ganz wunderbare Weise verarbeitet. Beim GSO ist eben dieses Werk im Übrigen am 21. Mai 2022 in der Kulturkirche Klassik 3 zu erleben.


Die Komposition „Toccata e due Canzoni“ von Bohuslav Martinů entstand zum größten Teil 1946 in New York, wohin der Komponist während des Zweiten Weltkriegs emigriert war. Die Welturaufführung in Europa war für den Komponisten insofern auch von größter emotionaler Bedeutung, als dass er sich in Amerika nie wirklich heimisch fühlte. In seinem einführenden Text zur Uraufführung des Werks schreibt Martinů: „Nach mehreren Jahren komme ich nun wieder mit einem neuen Werk und einer `Welturaufführung´ nach Europa. Das hat für mich fast symbolische Bedeutung. Während meines Aufenthaltes in Amerika habe ich fünf Symphonien für großes Orchester komponiert; nun kehre ich mit Vergnügen zu meiner Lieblingsform, dem Concerto grosso, zurück ... Ich habe das Stück aus einer Toccata und zwei Canzonen geformt. Die ersten zwei Sätze habe ich in New York komponiert, vor meiner Abreise zum Berkshire Festival. Da es mir gefährlich erschien, zwei Canzonen aufeinanderfolgen zu lassen, habe ich diese Form im weitesten Sinne aufgefasst und mit großer Freiheit behandelt. Ursprünglich wollte ich zwei streng gefasste Canzonen schreiben: leichte, fröhliche, einfache Chansons. Nach Beendigung der Toccata gab ich aber diesen Plan auf und führte auch dramatische Elemente ein. Obwohl ich mir eigentlich vorgenommen hatte, das Dramatische nicht zu sehr hervortreten zu lassen, konnte ich nicht anders vorgehen. Es war eines jener Werke, wo ich einfach meinen Eingebungen folgen musste, auch wenn ich keine rationale Begründung dafür angeben konnte...“


Die Toccata mit der Bezeichnung Allegro moderato ist ein brillantes und fesselndes Perpetuum mobile mit murmelnden, ineinander verwobenen Streichern, die sich mit einer rastlos brummenden Klavierlinie vermischen. Doch trotz der unaufhörlichen Beharrlichkeit in Rhythmus und Textur gibt es einen übergreifenden lyrischen Charakter, der sich sowohl in den rhythmischen Figuren als auch in den kurzen, aber schwebenden Fragmenten, die sie überlagern, bemerkbar macht. Während des gesamten Satzes spielt das Klavier eine zentrale Rolle, ein Bindeglied zwischen den kontinuierlichen Sechzehntelnoten der Bläser und der Streicher. Die beiden Canzonen präsentieren zwei komplementäre Stimmungen: die eine würdevoll, die andere kämpferisch. Aber beide besitzen die gleiche rhythmische Konsistenz und Integrität wie die Toccata.

Canzone Nr. 1 ist feierlich und stattlich. Sie beginnt mit dunklen Oktaven und einer hochchromatischen Melodie im Soloklavier. Diese Linie wird vom Rest des Orchesters fragmentiert und ergänzt, bevor sich die Musik zu einem leuchtenden Mittelteil mit Solostreichern und strahlenden Akkorden des restlichen Orchesters zusammenfügt. Der Höhepunkt ist eine fast schon quälende Folge von fallenden Triolen und chromatischen Linien. Der Satz endet charakteristisch so, wie er begonnen hat. Die zweite Canzone wechselt auf fast verblüffende Weise zwischen dem aggressiven 6/8-Takt, der sie eröffnet, und einem lyrischen Thema. Das Orchester spielt divergente Rhythmen, die miteinander um die Vorherrschaft über das Metrum zu wetteifern scheinen, bevor sich das Tempo verlangsamt und man sich auf einen 3/4-Takt einigt, in dessen Rhythmik der Mittelteil in Melancholie und herrlich ausdrucksstarken Unisono-Linien in den Violinen schwelgt. Doch dann kehrt das Allegro des Anfangs mit Wucht zurück und steigert sich zu einem furiosen Höhepunkt. Der mit Adagio bezeichnete Schlussteil erinnert an viele der Strukturen und Motive, die in diesem streng rhythmischen Stück vorherrschten. Das Stück endet in einem glorreichen, glühenden D-Dur.


„Variationen für eine liebe Freundin“ schrieb Brahms mit seinem üblichen Understatement auf die Originalhandschrift seiner Händelvariationen. Im September 1861 hatte er seine längsten und virtuosesten Variationen für Klavier vollendet und schickte sie sofort an seine „liebe Freundin“ Clara Schumann mit der Bitte, das Werk in ihr Konzertrepertoire aufzunehmen. Dem Willen des Freundes tat Clara umgehend Genüge und studierte unter großen Mühen die Variationen ein. Umso ärgerlicher erschien ihr die Reaktion des Komponisten nach der Uraufführung am 7. Dezember 1861: „Ich spielte sie unter Todesangst, aber dennoch glücklich und mit viel Beifall. Johannes aber kränkte mich tief durch die Gleichgültigkeit, die er mir in Bezug darauf bewies. Er äußerte, er könne die Variationen nun nicht mehr hören, es sei ihm überhaupt schrecklich, etwas von sich hören zu müssen, untätig dabei zu sitzen.“ Vielleicht hätte Brahms die orchestrierte Fassung seines Werkes von Edmund Rubbra etwas mehr Freude bereitet, bietet sie doch die Fülle der Klangwelten eines ganzen Orchesterapparates, um die ohnehin so vielschichtigen und expressionistischen Klavier-Variationen mit noch mehr klangvollem Leben zu füllen.


Das Thema der Variationen fand Brahms in Händels zweiter Sammlung von Cembalosuiten, die 1733 vom Verleger Walsh publiziert wurde. Das Original bietet dabei allerdings auch schon eine Aria mit fünf Variationen. Brahms übernahm das Thema der Aria tongetreu von Händel, also mit allen barocken Verzierungen, ergänzte sie aber um 25 Variationen und eine abschließende Fuge. In der überlieferten Handschrift des Werkes kann man sehr schön sehen, was Brahms an Händels Thema offenbar gereizt haben musste: die absolute Symmetrie von zweimal acht Takten und das simple harmonische Schema. Das Thema passt in Brahms’ Handschrift genau auf zwei Klaviersysteme, ebenso fast jede der Variationen, so dass schon im Schriftbild Händels Aria omnipräsent erscheint. Fast alle Variationen beschränken sich auf zweimal acht Takte mit Wiederholungen im harmonischen Schema B-Dur/F-Dur/B-Dur. Nur die b-Moll-Variationen weichen aus. Sie bringen weiche, singende Linien und Chromatik ins Spiel, bevor sich Brahms in deren Folge von Neuem in den „motorischen“ Duktus barocker Rhythmen stürzt. Nach dem mächtigen Schluss der 25. Variation im dreifachen Forte setzt das Thema der Fuge ein. Es ist eine freie Variante des Händelthemas in lauter gebundenen Sechzehntel, die das Werk zu einem fulminanten Höhepunkt führt.

(Text: Dr. Alexander Busche)


Ruth Reinhardt ist sicher eine der aufregendsten und vielseitigsten Dirigentinnen unserer Zeit, die mit ihrer enormen musikalischen Intelligenz, ihrem eleganten Dirigat und ungewöhnlicher Programmplanung weltweit beeindruckt. Sie hat ihren Master im Dirigat an der Juilliard School New York unter Alan Gilbert abgeschlossen. Geboren in Saarbrücken, erhielt sie bereits früh ersten Geigenunterricht und wirkte im Kinderchor des Saarländischen Staatstheaters mit. An der Zürcher Hochschule der Künste studierte sie Violine bei Rudolf Koelman. Hier begann sie auch mit ihrer Ausbildung zur Dirigentin bei Constantin Trinks, Johannes Schlaefli und Ulrich Windfuhr und besuchte eine Reihe von Meisterkursen, u.a. bei Bernard Haitink, Michael Tilson Thomas, David Zinman, Paavo Järvi, Neeme Järvi, Marin Alsop oder James Ross. Früh zeigte sich die ausgeprägte Musikalität der jungen Dirigentin: Bereits mit 17 Jahren komponierte sie eine Oper, die von den Kindern und Jugendlichen ihrer Heimatstadt unter ihrer Leitung aufgeführt wurde. Während ihres Studiums in Zürich dirigierte sie die Premieren von zwei Kammeropern für Kinder: „Die kleine Meerjungfrau“ des Schweizer Komponisten Michal Muggli und „Wassilissa“ des deutschen Komponisten Dennis Bäsecke. Weitere Opernproduktionen waren Dvořáks „Rusalka“ und Webers „Der Freischütz“ für die North Czech Opera Company sowie Strauss‘ „Die Fledermaus“ an der Universität der Künste in Leipzig.


Georg Friedrich Händel: Concerto Grosso B-Dur op.6 Nr.7 Bohuslav Martinů: Toccata e due canzoni op.h. 311 (1946) Johannes Brahms: Variationen und Fuge über ein Thema von Händel op.24

Göttinger Symphonieorchester Dirigentin: Ruth Reinhardt


Pressefotos von Ruth Reinhardt finden Sie hier: https://ruth-reinhardt.com/media/


Sie wollen das Programm des Saisonauftaktkonzertes am 18.09. in der Lokhalle Göttingen schon jetzt hören? Kein Problem, wir haben dir die Stücke als Spotify-Playlist zusammengetragen.

https://open.spotify.com/playlist/3Zdq9zW1qqK4KlP4EAJ3ud?si=8d41f63470a54983&nd=1

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